Ein neues Ensemble macht vor, wie Ortskerne wieder an Strahlkraft gewinnen: Wohnen, Bibliothek und Bürgersaal greifen ineinander, Gassen werden zu Wegen der Begegnung, und robuste Bauweise trifft auf sorgfältig komponierte Freiräume. Ein Projekt, das auf Langlebigkeit zielt – architektonisch, sozial, energetisch.
Ausgangspunkt: Dorfmitte als Zukunftsaufgabe
Bondorf, südwestlich von Stuttgart, hat seine Mitte neu vermessen. Wo zuvor verstreute Parzellen und in die Jahre gekommene Bausubstanz lagen, spannt das Quartier „Lange Gasse“ heute ein feines Gefüge aus Wohnhäusern, Bürgerhaus und Bibliothek auf – ein Ort, der Alltag ordnet und Gemeinschaft ermöglicht. Der Weg hierher war bewusst: Die Gemeinde erwarb über Jahre Grundstücke, bündelte sie und schrieb einen Wettbewerb zur städtebaulichen Neuordnung aus. Den Zuschlag erhielten Architektur 6H (Stuttgart) und AG Freiraum (Freiburg) – mit einem Entwurf, der Maßstäblichkeit, Materialität und Wegeführung gleichermaßen ernst nimmt.
Stadt und Dorf im Dialog
Das Ensemble knüpft an die Typologie des Orts an: schlanke, steile Satteldächer, klare Trauflinien, zurückhaltende Fassaden. Entlang der Grabenstraße markiert das neue Bürgerhaus mit Bibliothek einen präzisen Auftakt – selbstbewusst, doch maßvoll, mit Vorplatz zur öffentlichen Seite. Von hier leiten Wege und Blickbeziehungen als „Perlenkette“ weiter: über die Remigiuskirche und das Vereins- und Kulturzentrum, durch den Innenhof in die Lange Gasse, bis zum Kindergarten und zur Seniorenwohnanlage. Eine sanfte Topografie und barrierefreie Rampen machen die Folge der Räume selbstverständlich lesbar; Asphalt, Pflaster und Grünflächen setzen feine Akzente im Takt der Schritte.
Bürgerhaus & Bücherei: Haus der offenen Schwelle
Im Inneren des Bürgerhauses verbindet eine z-förmige Erschließung Vorplatz und Hof. Der Römersaal öffnet sich zum Freien und kann – wetter- und anlassabhängig – erweitert werden; darüber entfaltet die Bibliothek eine Split-Level-Topografie unter dem geneigten Dach. Es entsteht ein Raum, der leise monumental wirkt: viel Holz, Sichtbeton, sorgfältig gesetzte Leuchten. Der Ort dient Lesenden, Vereinen, VHS-Kursen, Festen. Architektur als Infrastruktur des Miteinanders – robust in der Ausführung, wandlungsfähig in der Nutzung.
Wohnen am Platz: Durchmischung als Prinzip
Drei Wohnhäuser – ein Dreispänner, zwei Zweispänner – rahmen die „Grüne Mitte“. Insgesamt 19 barrierefreie Wohnungen mit flexiblen Grundrissen, vom kompakten Apartment bis zur Familienwohnung, werden von der Gemeinde vermietet und sichern langfristig bezahlbaren Wohnraum. Einfache, tragende Strukturen erlauben verschiedene Zuschnitte; die meisten Wohneinheiten sind zweiseitig belichtet, Wohnbereiche nach Süden oder Westen orientiert. Eingezogene Loggien schaffen private Freisitze, deren Möblierung und Stauraumzonen die Intimität stärken. Die Tiefgarage hält den Hof weitgehend autofrei – ein Gewinn an Ruhe, Sicherheit und Aufenthaltsqualität.
Die Grüne Mitte: Freiraum mit feinem Takt
Der Innenhof funktioniert als Lesegarten und Quartiersplatz zugleich. Pergola und Zierkirschen setzen Schattenpunkte, ein Solitärbaum markiert mit Sitzbänken das optische Zentrum vor dem Café. Gemeinschaftliche Flächen mischen sich mit privaten Gartenparzellen; Feste, Lesungen und Geburtstage finden hier ebenso ihren Ort wie das leise Gespräch am Nachmittag. Der Hof ist nicht Kulisse, sondern gebauter Alltag – eine Einladung, Wege zu kreuzen und Blickkontakte zuzulassen.
Konstruktion: Monolithische Ruhe
Alle Gebäude sind als massive Ziegelbauten konzipiert – einschalige, hochwärmedämmende Außenwände mit mineralischem Putz, ergänzt um Holz-Alu-Fenster. Der Wandaufbau kombiniert Dämmleistung und Speichermasse: Sommerliche Lastspitzen werden abgepuffert, winterliche Wärme bleibt im Raum. Die kompakten Baukörper, der kontrollierte Fensteranteil und verschattungsfähige Öffnungen schaffen ein behagliches, zugluftfreies Innenklima – eine Qualität, die ohne sichtbare Inszenierung wirkt. Im Bürgerhaus fügt sich die Materialität – Holz, Beton, Glas – zu einer ruhigen, langlebigen Ordnung.
Technik: Nachhaltig, nachvollziehbar, nah am Bedarf
Das Energiekonzept setzt auf Effizienz und regionale Ressourcen. Eine zentrale Holzpellet-Anlage versorgt das Quartier verlässlich mit Wärme; auf Teilflächen der geneigten Dächer unterstützen Solarpaneele die Warmwasserbereitung. Mit hoch gedämmten Hüllen, Wärmeschutzverglasung und bedarfsorientierter Lüftung in den Naßräumen entsteht ein System, das im Betrieb leise bleibt – ökologisch wie akustisch. Der Standard liegt in der Effizienzklasse zeitgemäßer KfW-Anforderungen; entscheidend ist dabei weniger das Label als die stimmige Gesamtkomposition aus Gebäudehülle, Anlagentechnik und Nutzerkomfort.
Mobilität & Erreichbarkeit
Die Quartiersstruktur priorisiert die kurzen Wege: Bushaltestellen sind fußläufig erreichbar, Stellplätze liegen in der Tiefe. Die Lange Gasse wird zur Wohn- und Spielstraße, mit Asphaltband und punktuell eingestreutem Pflaster, das zum Langsamerwerden einlädt. So entstehen Räume, die Verkehr ermöglichen – und doch dem Aufenthalt gehören.
Haltung: Architektur als Gemeingut
Dass die Gestaltung über das Funktionale hinaus trägt, bestätigt auch die Auszeichnung „Beispielhaftes Bauen“ der Architektenkammer Baden-Württemberg. Die Jury würdigte das büchereibegleitete Bürgerhaus als markantes, aber ortsbezogenes Zeichen, die gelungene Erschließung und den kommunikativen Innenhof – und nicht zuletzt den Mut der Gemeinde, bezahlbares Wohnen in der Mitte zu verankern. Ein Signal, das über Bondorf hinausweist.
Resümee: Ein Quartier, das atmet
„Lange Gasse“ ist kein Prestigeprojekt, sondern ein präzises Stück Baukultur: Es respektiert das Gewachsene, formuliert das Neue klar und verbindet beides über Wege, Blickachsen und Materialien. Die Häuser sprechen leise, die Räume sind robust, die Freiflächen freundlich. Was bleibt, ist ein Ort, der Menschen zusammenführt – und ihnen zugleich Raum lässt. So sieht eine lebendige Mitte aus, die in die Zukunft trägt.

Luftaufnahme des neu gestalteten Quartiers Lange Gasse im Ortskern von Bondorf: Das Ensemble aus Wohngebäuden, Bibliothek und Gemeinschaftsflächen fügt sich harmonisch in die bestehende Bebauung ein und schafft mit begrüntem Innenhof sowie öffentlichen Plätzen einen modernen, barrierefreien Treffpunkt für die Gemeinde.

Das neue Bürgerhaus mit integrierter Bücherei im Quartier Lange Gasse in Bondorf: Der schlanke Baukörper mit steilem Satteldach fügt sich durch klare Formen und helle Fassaden harmonisch in den Ortskern ein und schafft in direkter Nachbarschaft zum Fachwerkensemble einen modernen Ort für Kultur, Bildung und Begegnung.

Die Wohngebäude im Quartier zeichnen sich durch klare Kubaturen, steile Satteldächer und zurückhaltende Fassaden aus. Unterschiedlich große, barrierefreie Wohnungen bieten vielfältigen Wohnraum und tragen zu einer ausgewogenen sozialen Durchmischung bei, während die Architektur eine zeitgemäße Ergänzung des Ortskerns bildet.

Die Freiraumgestaltung des Quartiers Lange Gasse in Bondorf setzt auf Aufenthaltsqualität und Gemeinschaft: Ein begrünter Innenhof mit Spiel- und Sitzbereich, schattenspendender Pergola sowie eine klare Wegeführung schaffen Orte der Ruhe und Begegnung, die Alt- und Neubauten gleichermaßen verbinden.

Die Bücherei überzeugt durch ihr lichtdurchflutetes Split-Level-Konzept, großzügige Fensterflächen und eine klare, zurückhaltende Materialwahl aus Holz, Sichtbeton und Weißputz. Helle Lesebereiche mit flexiblen Möblierungen schaffen eine einladende Atmosphäre, die Bildung, Begegnung und Aufenthaltsqualität gleichermaßen fördert.

Der Tagungs- und Veranstaltungsraum im Bürgerhaus überzeugt durch seine flexible Nutzung, klare Gestaltung und hochwertige Materialwahl. Sichtbeton und Holz schaffen eine ruhige, repräsentative Atmosphäre, während großflächige Fenster für viel Tageslicht sorgen und den direkten Bezug zum angrenzenden Quartiersplatz herstellen.
Partner und Experten im Überblick
Die Realisierung des Quartiers Lange Gasse in Bondorf war nur durch das Zusammenspiel zahlreicher Fachdisziplinen möglich. Von der architektonischen Planung über die Landschaftsgestaltung bis hin zu Innenausbau und Bauausführung trugen viele Beteiligte ihren Teil dazu bei, einen neuen lebendigen Ortskern mit hoher Aufenthaltsqualität zu schaffen.
Gemeinde Bondorf
Architektur 6H, Stuttgart
Schneck Schaal Braun, Tübingen
AG Freiraum, Freiburg
Schreinerei Willi Pfeffer, Eutingen
Bühler, Ammerbuch
Wolfer & Goebel Bau, Stuttgart
Pfeffer Fenster-Türen-Fassaden, Starzach
PR Company, Augsburg
Gerd Schaller, Augsburg
Was bedeutet es, einen Ort neu zu erfinden, ohne seine Geschichte zu verleugnen? Das Quartier Lange Gasse in Bondorf ist nicht nur ein Bauprojekt, es ist ein Versuch, Ortskern und Zukunft in Einklang zu bringen. Hier geht es nicht um ein Spektakel der Architektur, sondern um ein feinsinniges Gespräch zwischen Alt und Neu, zwischen Dorfkern und Gemeinschaft, zwischen Material und Haltung.
Im Spiegel von klimabewusstbauen wird dieses Bauwerk zu einem lebendigen Beispiel dafür, wie Verantwortung im Bauen Gestalt annehmen kann – nicht durch Zwang, sondern durch kluge Entscheidungen, getragen von Maß und Bewusstsein
Der Raum als Angebot
Die Setzung an Grabenstraße und Langer Gasse ist leise und zugleich deutlich: ein schlanker Baukörper, der sich einfügt, ohne zu verschwinden; ein Vorplatz als Auftakt, ein grüner Innenhof als Herz der Folge – vom Vereins- und Kulturzentrum über die Kirche bis hin zu Kindergarten und Seniorenwohnen. Wege sind barrierefrei geführt, mit sanften Rampen, Stufen und Belagswechseln; die Lange Gasse wird zur Wohn- und Spielstraße. So entsteht ein Quartier, das Kommunikation stiftet, statt nur Erschließung zu sein.
Technik ohne Pose
Die Gebäude sind kompakt, gut gedämmt, als Massivbauten mit monolithischen Ziegelaußenwänden gedacht; Holz-Alu-Fenster, Komfortlüftung, passive Komponenten und – im Verbund – eine Holzpellet-Wärmeversorgung. Der energetische Anspruch orientiert sich am Effizienzhaus-Standard 55, die Solarpaneele auf den geneigten Dächern ergänzen das Konzept. Das ist kein Spektakel, sondern das pragmatische Bündeln vernünftiger Mittel: Robustheit, Behaglichkeit, geringer Verbrauch – und das in kommunaler Verantwortung für bezahlbaren Wohnraum.
Haltung wird Material
Nachhaltigkeit braucht kluge Entscheidungen – im Quartier zeigt sich das besonders an der Materialität:
Beton als Tragwerk und dort, wo er sichtbar bleibt, als ruhiger Hintergrund: formbar, dauerhaft, zugleich ressourcenintensiv in der Herstellung. Seine Nachhaltigkeit hängt am rechten Maß – an der konstruktiven Klarheit statt der Masse.
Mauerziegel für die Außenwände: ein Traditionsbaustoff mit langer Lebensdauer, guter Speicherfähigkeit und verlässlichen bauphysikalischen Qualitäten – zugleich gebrannt und damit energieaufwändig. Die kluge Entscheidung liegt in der monolithischen Einfachheit und der Nutzung über Generationen.
Steinwolle als Dämmung: unsichtbar, aber wirksam für Wärme-, Schall- und Brandschutz. Ihr ökologisches Profil verbessert sich, wo Produktion dekarbonisiert und Lebenszyklen verlängert werden – auch das ist eine Frage der Organisation von Kreisläufen.
Monolithisches Ziegelmauerwerk bildet die Gebäudehülle.
Sichtbeton, weißer Putz und Natursteinböden prägen den Eingangsbereich.
Großzügige Glasfächen, Holzeinbauten und bunte Sitzmöbel sogen für angenehme Atmosphäre.
Glas für Ausblick und Belichtung: Transparenz als Qualitätsversprechen – aber nur dort, wo sie Balance stiftet. Hochwertige Verglasungen gewinnen ökologisch, wenn sie lange im Einsatz sind und Wärmeverluste minimieren.
Holzoberflächen in Böden und Einbauten: Sie übersetzen Technik in Atmosphäre, machen Wärme und Nähe spürbar. Die Entscheidung über Behandlung und Pflege ist immer auch eine ökologische Weichenstellung über Zyklen und Instandhaltung.
Naturstein innen und außen: gewachsen, langlebig, haptisch präsent. Nachhaltig, wo Herkunft und Nutzung in Maß und Nähe gedacht werden – ein Material, das Ruhe statt Moden verspricht.
Die Summe dieser Setzungen ist kein Dogma, sondern ein Arrangement: Das Z-förmige Foyer verbindet Räume, der Römersaal öffnet sich zum Hof, die Bibliothek nutzt das Steildach als Galerie – Architektur als Einladung zum Alltäglichen. Hier trifft das Leitbild den Ort: Entscheidungen werden „nach Sinn, nicht nach Schein“ getroffen; die Gemeinschaft wird zur Ressource der Transformation.
Maß statt Perfektion
Aus der Perspektive von klimabewusstbauen ist dieses Quartier kein Endpunkt, sondern ein gelingendes Zwischenstadium. Es nimmt Konflikte ernst – zwischen Energieaufwand der Materialien und ihrer Dauer, zwischen Transparenz und Verlusten, zwischen Technik und Pflege – und antwortet mit bewusster Begrenzung: kompakte Baukörper, robuste Standards, soziale Durchmischung, öffentliche Nutzung. So wird ein Ortskern nicht „fertig“, sondern lebendig – lernfähig, korrigierbar, anschlussfähig.
Das Quartier Lange Gasse zeigt, dass klimabewusstbauen weder Verzichtsrhetorik noch Technikfetisch ist, sondern eine Kultur des Abwägens: Nachhaltigkeit braucht kluge Entscheidungen – über Material, Maßstab, Nutzung und Gemeinschaft. Bondorf hat dafür einen Rahmen geschaffen, der Alt und Neu ins Gespräch bringt und dem Alltag eine Bühne gibt.
Der Wert dieses Projekts liegt nicht in einer endgültigen Antwort, sondern in seiner Haltung, Fragen offen zu halten und trotzdem entschlossen zu handeln. Genau darin wird der Ortskern zum Vorbild: nicht, weil alles perfekt ist, sondern weil Sinn und Maß den Ton angeben – heute, und mit Blick auf morgen.
Objektreportage in gedruckter Form und als Download
Die Ausgabe 020 der Heftreihe Werke & Werte widmet sich dem Quartier Lange Gasse in Bondorf und zeigt eindrucksvoll, wie eine zukunftsorientierte Ortskernsanierung im ländlichen Raum gelingen kann. Auf 28 Seiten werden Konzept, Architektur und Freiraumgestaltung ebenso beleuchtet wie die Beiträge der Projektbeteiligten. Zahlreiche Fotos, Pläne und Hintergrundberichte machen die Publikation zu einer wertvollen Informationsquelle für Fachleute und Interessierte gleichermaßen.
Die Ausgabe kann kostenlos heruntergeladen werden und bietet damit einen unkomplizierten Zugang zu allen Inhalten.
